Die besten Gedichte der Welt

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Moderator: Freckles*

Lenya

Beitrag von Lenya »

Die zwei gefallen mir besonders gut!

Hier poste ich mal wieder ein neues Gedicht:

Spuren im Sand

Eines Nachts hatte ich einen Traum:
Ich ging am Meer entlang mit meinem Herrn.
Vor dem dunklen Nachthimmel erstrahlten,
Streiflichtern gleich, Bilder aus meinem Leben.
Und jedesmal sah ich zwei Fußspuren im Sand,
meine eigene und die meines Herrn.
Als das letzte Bild an meinen Augen vorübergezogen
war, blickte ich zurück. Ich erschrak, als ich entdeckte,
daß an vielen Stellen meines Lebensweges nur eine Spur
zu sehen war. Und das waren gerade die schwersten
Zeiten meines Lebens.
Besorgt fragte ich den Herrn:
"Herr, als ich anfing, dir nachzufolgen, da hast du
mir versprochen, auf allen Wegen bei mir zu sein.
Aber jetzt entdecke ich, daß in den schwersten Zeiten
meines Lebens nur eine Spur im Sand zu sehen ist.
Warum hast du mich allein gelassen, als ich dich am
meisten brauchte?"

Da antwortete er:
"Mein liebes Kind, ich liebe dich und werde dich nie
allein lassen, erst recht nicht in Nöten und Schwierigkeiten.
Dort wo du nur eine Spur gesehen hast,
da habe ich dich getragen."

-Margaret Fishback Powers-


Ich liebe dieses Gedicht!

Bild
Nicole1212

Beitrag von Nicole1212 »

Weil wir gerade Ostern hatten hier der
Osterspaziergang:

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer kornigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt's im Revier
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß, in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!

(Goethe; Faust I)
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Blondchen
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Beitrag von Blondchen »

Also ich find Friedrich Schillers "Bürgschaft" und Heines "Balsazar" richtig gut, aber das ist auch schön:

Mondnacht

Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis' die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus'.
Joseph von Eichendorff
Lenya

Beitrag von Lenya »

Ja, das ist schön, ich habe das schonmal irgendwo gelesen :)
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Blondchen
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Beitrag von Blondchen »

Vorallem die letzten vier Verse, die find ich besonders schön! Die letzen vier werden auch oft auf Todeskarten und in Todesanzeigen in der Zeitung benutzt, irgendwie brutal, aber es passt ja auch in diesem Zusammenhang.
Kann gut sein, dass du das schon mal gehört hast, ist auch eines seiner bekanntesten Gedichte.. Und der Frohe Wandersmann.
Ich hab auch oft die Versen aus Belsazar im Kopf, sind die einzigen, die hängen geblieben sind, nachdem wir es mal in der Schule auswendig lernen mussten:

Jehova dir künd' ich auf ewig Frohn,
ich bin der König von Babylon!

Das geht einem unter die Haut!
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Blondchen
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Beitrag von Blondchen »

Die Bürgschaft

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
"Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!"
Entgegnet ihm der Wüterich.
"Die Stadt vom Tyrannen befreien!"
"Das sollst du am Kreuze bereuen."


"Ich bin", spricht jener, "zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben;
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
Ich lasse den Freund dir als Bürgen-
Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen:"


Da lächelt der König mit arger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
"Drei Tage will ich dir schenken.
Doch wisse: wenn sie verstrichen, die Frist,
Eh' du zurück mir gegeben bist,
So muss er statt deiner erblassen,
Doch dir ist die Strafe erlassen."


Und er kommt zum Freunde: "Der König gebeut,
Dass ich am Kreuz mit dem Leben
Bezahle das frevelnde Streben;
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit,
So bleib du dem König zum Pfande,
Bis ich komme, zu lösen die Bande."


Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
Und liefert sich aus dem Tyrannen,
Der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint,
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.


Da gießt unendlicher Regen herab,
Von den Bergen stürzen die Quellen,
Und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab-
Da reißet die Brücke der Strudel hinab,
Und donnernd sprengen die Wogen
Des Gewölbes krachenden Bogen.


Und trostlos irrt er ans Ufers Rand:
Wie weit er auch spähet und blicket
Und die Stimme, die rufende, schicket-
Da stößet kein Nachen vom sichernden Strand,
Der ihn setze an das gewünschte Land,
Kein Schiffer lenket die Fähre,
Und der wolde Strom wird zum Meere.


Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
Die Hände zum Zeus erhoben:
"O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
Die Sonne. und wenn sie niedergeht
Und ich kann die Stadt nicht erreichen,
So muss der Freund mir erbleichen."


Doch wachsend erneut des Stromes Wut,
Und Welle auf Welle zerrinnet,
Und Stunde an Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da fasst er sich Mut
Und wirft sich hinein in die brausende Flut
Und teilt mit gewaltigen Armen
Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.


[...]


Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
Ihn jagen der Sorge Qualen;
Da schimmern in Abendrots Strahlen
Von ferne die Zinner von Syrakus,
Und entgegen kommt ihm Philostratus,
Der erkennet entsetzt den Gebieter:


"Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
So rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet' er
Mit hoffender Seele der Widerkehr,
Ihm konnte den mutigen Glauben
Der Hohn des Tyrannen nicht rauben."


"Und ist es zu spät und kann ich ihm nicht
Ein Retter willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
Dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht-
Er schlache der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue."


Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor
Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
Dass die Menge gaffend umstehet;
An dem Seile schon zieht man den Freund empor,
Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
"Mich, Henker!", ruft er, "erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!"


Und Erstaunen ergreifet das Volk umher,
In den Armen liegen sich beide
Und weinen für Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
Und zum Könige bringt man die Wundermär';
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Läßt schnell vor den Thron sie führen.


Und blicket sie lange verwndert an;
Drauf spricht er: "Es ist euch gelungen,
Ihr habt das Herz mir bezwungen,
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn-
So nehmet auch mich zum Genossen an.
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte."

Friedrich Schiller
sissi
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Beitrag von sissi »

Es kann die Ehre dieser Welt
dir keine Ehre geben,
was dich in Wahrheit hebt und hält,
muss in dir selber leben.

Wenn's deinem Innersten gebricht,
an echten Stolzes Stütze,
ob dann die Welt dir Beifall spricht,
ist all dir wenig nütze.

Das flücht'ge Lob des Tages Ruhm
magst du dem Eitlen gönnen;
das aber sei dein Heiligtum:
Vor dir bestehen können.

Theodor Fontane
Time flies like an arrow; fruit flies like a banana. - Groucho Marx
Lenya

Beitrag von Lenya »

Ach, Fontane, mein Liebling :D Hat jemand "Effi Briest" gelesen? Interessantes Buch.
sissi
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Beitrag von sissi »

ich mag ihn auch sehr gerne, habe das buch allerdings noch nicht gelesen, aber vllt mache ich das mal! :)
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Lenya

Beitrag von Lenya »

Ich musste es im Deutsch LK lesen und es war ganz unterhaltsam. Effi ist ja irgendwie verrückt und ihr Mann ein eifersüchtiger Spinner, aber sonst :D
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Blondchen
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Beitrag von Blondchen »

Ist immerhin der Stoff, aus dem die heutigen Soaps gemacht sind..
Ich mag auch John Maynard, musste ich mal in einer Deutschklausur analysieren, die hab ich übrigens total versemmelt, weil ich das Gedicht nicht mochte, und weil ich von meiner fünf so beleidigt war, hab ich mich damit noch mal auseinander gesetzt, jetzt find ich es richtig klasse... :)
Lenya

Beitrag von Lenya »

Ja, John Maynard mag ich auch gern, obwohl es doch etwas makaber ist. Hat mich aber immer fasziniert. Mir haben auch ziemlich viele Gedichte und Balladen gefallen die wir in der Schule behandelt haben. :)
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Blondchen
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Beitrag von Blondchen »

Mir gefallen Gedichte/Balladen unheimlich gut, wenn sie meinen Geschmack treffen, aber ich mag es nicht, wenn man so viel darüber nachdenkt und es in alle Einzelteile legt um es zu analysieren, ich finde, dann geht die Magie irgendwie verloren... Aber prinzipiell gibt es wirklich schöne Gedichte, die man in der Schule bespricht! Wir hatten mal eines von Erich Kästner "Der Handstand auf der Loreley", in dem er das Heldentum auf den Arm nimmt, da musste ich viel lachen! Es ist wirklich gut, mal sehen, ob ich es wiederfinde, dann schreib ich es auf jeden Fall hier rein! :) :)
Lenya

Beitrag von Lenya »

Ich liebe auch diese Ballade:

Die Lorelei

Ich weiss nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
Und ruhig fliesst der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldenes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schat nur hinauf in die Höh.

Ich glaube, die Welllen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lorelei getan.
Heinrich Heine


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Beitrag von Blondchen »

Ja, die ist auch schön, aber ich meinte das Lorelay Gedicht von Kästner...
Es gibt soviele Balladen über die Lorelay... Brentano hat auch eine geschrieben oder? Kästner nimmt das Alles so ein bisschen auf den Arm, aber wirklich klug!
Beruthiel

Beitrag von Beruthiel »

Robert Frost mag ich auch sehr gerne, aber zur Zeit bin ich grad vernarrt in e. e. cummings. Das ist mein Lieblingsgedicht von ihm


who knows if the moon's
a balloon,coming out of a keen city
in the sky - filled with pretty people?
(and if you and i should

get into it,if they
should take me and take you into their balloon,
why then
we'd go up higher with all the pretty people

than houses and steeples and clouds:
go sailing
away and away sailing into a keen
city which nobody's ever visited,where

always
it's
Spring)and everyone's
in love and flowers pick themselves

[edit] irgendwie löscht mir der die leerzeichen raus :(
Lenya

Beitrag von Lenya »

Ich habe schon von Cummings gehört, aber ich glaube, noch nie etwas gelesen *peinlich*.

Ich liebe ja auch Shakespeares Sonetten, irgendwann will ich mir die auch unbedingt mal in Buchform kaufen :) Mit deutschen und englischen Versionen.
marystar

Beitrag von marystar »

Da ich ehrlich gesagt keine Lust habe, alles durchzusuchen :D , aber natürlich keinen neuen "sinnlosen" Thread aufmachen will, :schaem: meine Frage:

Gibt es schon einen Thread, in den man seine eigenen Gedichte schreiben kann, oder kann man das auch hier reinschreiben?
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Beitrag von Blondchen »

Der Handstand auf der Loreley

Die Loreley, bekannt als Fee und Felsen,
ist jener Fleck am Rhein,nicht weit von Bingen,
wo früher Schiffer mit verdrehten Hälsen
von blonden Haaren schwärmend untergingen.

Wir wandeln uns. die Schiffer inbegriffen.
Der Rhein ist reguliert und eingedämmt.
Die Zeit vergeht. Man stirbt nicht mehr beim
Schiffen, bloß, weil ein blondes Weib sich dauernd
kämmt.

Nichtsdestotrotz geschieht auch heutzutage
noch manches, was der Steinzeit ähnlich sieht.
So alt ist keine Deutsche Heldensage, dass sie nicht
doch noch Helden nach sich zieht.

Erst neulich machte auf der Loreley
hoch überm Rhein ein Turner einen Handstand.
Von allen Dampfern tönte Angstgeschrei
als er kopfüber an der Wand stand.

Er stand als ob er auf dem Barren stünde.
Mit hohlem Kreuz und lustbetönten Zügen.
Man fragte nicht: was hatte er für Gründe?
Er war ein Held, das dürfte wohl genügen.

Er stand verkehrt im Abendsonnenscheine.
Da trübte Wehmut seinen Turnerblick.
Er dachte an die Loreley von Heine und stürtzte
ab und brach sich das Genick!

Er starb als Held, man muss ihn nicht beweinen.
Sein Handstand war vom Schicksal überstrahlt.
Ein Augenblick mit zwei gehobenen Beinen ist
nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt.

P.S. Eins wäre allerdings noch nachzutragen:
Der Turner hinterließ uns Frau und Kind!
Hinwiderrum man soll sie nicht beklagen, weil
im Bezirk der Helden und der Sagen die
Überlebenden nicht wichtig sind.

_______________
Erich Kästner





Ich liebe seine Ironie in diesem Gedicht! Ich find es einfach klasse! :up:
"Man braucht nichts im Leben zu fürchten, man muss nur alles verstehen."
Marie Curie
Lenya

Beitrag von Lenya »

Das hier ist zwar kein Gedicht, aber doch sehr eindringlich:

Ich ging zu einer Party, Mami, und dachte an Deine Worte. Du hattest mich gebeten, nicht zu trinken, und so trank ich keinen Alkohol. Ich fühlte mich ganz stolz, Mami, genauso, wie Du es vorhergesagt hattest. Ich habe vor dem Fahren nichts getrunken, auch wenn die anderen sich mokierten. Ich weiß, dass es richtig war, und dass Du immer recht hast. Die Party geht langsam zu Ende, Mami, und alle fahren weg. Als ich in mein Auto stieg, wusste ich, dass ich heil nach Hause kommen würde, aufgrund Deiner Erziehung - so verantwortungsvoll und fein. Ich fuhr langsam an, und bog in die Strasse ein. Aber der andere Fahrer sah mich nicht, und sein Wagen traf mich mit voller Wucht. Als ich auf dem Bürgersteig lag, Mami, hörte ich den Polizisten sagen, der andere sei betrunken. Und nun bin ich diejenige, die dafür büßen muss. Ich liege hier im Sterben, Mami, ach bitte, komm' doch schnell. Wie konnte mir das passieren? Mein Leben zerplatzt wie ein Luftballon. Ringsherum ist alles voll Blut, Mami, das meiste ist von mir. Ich höre den Arzt sagen, Mami, dass es keine Hilfe mehr für mich gibt. Ich wollte Dir nur sagen, ich schwöre es, ich habe wirklich nichts getrunken. Es waren die anderen, Mami, die haben einfach nicht nachgedacht. Er war wahrscheinlich auf der gleichen Party wie ich. Der einzige Unterschied ist nur: Er hat getrunken, und ich werde sterben. Warum trinken die Menschen, Mami? Es kann das ganze Leben ruinieren. Ich habe jetzt starke Schmerzen, wie Messerstiche so scharf. Der Mann, der mich angefahren hat, Mami, läuft herum, und ich liege hier im Sterben. Er guckt nur dumm. Sag' meinem Bruder, dass er nicht weinen soll. Und Papi soll tapfer sein. Und wenn ich dann im Himmel bin, Mami, schreibt 'Papis Mädchen' auf meinen Grabstein. Jemand hätte es ihm sagen sollen, Mami, nicht trinken und dann fahren. Wenn man ihm das gesagt hätte, würde ich noch leben. Mein Atem wird kürzer, Mami, ich
habe große Angst. Bitte, weine nicht um mich, Mami. Du warst immer da, wenn ich Dich brauchte.
Ich habe nur noch eine letzte Frage, bevor ich von hier fortgehe: Ich habe nicht vor dem Fahren getrunken, warum bin ich diejenige, die sterben muss?
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