Das Klassenzimmer (Kurzgeschichte)
Verfasst: 23.06.2005, 18:17
Ich hatte vor einiger Zeit mal ne kleine Kurzgeschichte geschrieben.
Achtung : FSK 18
Heute ist der 24. Mai 2004, es ist ein Montag. Die Sonne scheint und die Uhr zeigt 10:22 Uhr an. Wir haben gerade die dritte Schulstunde, Mathematik. Die gesamte Klasse bis auf Tina ist anwesend. Unsere Lehrerin quält uns in dieser unerträglichen Hitze mit Prüfungsvorbereitungen.
Ich schwitze, genauso wie der Rest meiner Mitschüler. Viele von ihnen stöhnen und fächern sich verzweifelt Luft zu.
Es klopft an der Tür des Klassenraumes und die Lehrerin öffnet die Tür. Als sie sieht, dass es sich um Tina handelt welche zu spät kommt setzt sie sofort zu einer Standpauke an.
Ein Knall ertönt, der das Gemecker von Frau Schulz jäh unterbricht.
Sie wird nach hinten geschleudert und sinkt in sich zusammen.
Die Schüler um mich herum brechen in Panik aus, sie schreien, weinen und verfallen in Schockzustände.
Tina betritt das Klassenzimmer und schreit. „Seid ruhig und setzt euch hin. Sofort!“
Alle machen was sie sagt.
Im Klassenzimmer um mich herum herrscht Stille. Dieser unheimliche, ruhige Zustand wird nur von dem ängstlichen Wimmern meiner Klassenkameraden durchbrochen. Minuten um Minuten verstreichen. Der Geruch von Schweiß, Urin und Blut liegt in der Luft. Einige Mitschüler scheinen in diesem Schreckmoment die Kontrolle über ihre Blase verloren zu haben.
Vorne neben dem Lehrertisch liegt Frau Schulz, dort wo früher ihr Hals und Kopf waren ragt nur noch ein Stück Wirbelsäule aus ihrem Rücken.
Die Tafel ist voll mit Blut, Gehirnteilen, Haut und einigen Knochensplittern. Nie wieder wird sie Tina heruntermachen weil sie ihre Mathematik Hausaufgaben nicht erledigt hatte, sie zu spät kam oder weil sie mal wieder in ihrem Sportunterricht die tausend Meter nicht schaffte.
Die Zeit verstreicht. Ich weiß nicht, ob es fünf Minuten oder mehrere Stunden sind.
Die Schrotflinte, mit welcher Tina uns und die gesamte Schule von der Schreckenslehrerin befreite, hatte sie gestern aus dem Waffenschrank ihres Vaters gestohlen. Er ist Polizist und steht draußen mit seinem Einsatzkommando, bereit die Schule zu stürmen. Irgendjemand hatte anscheinend schnell reagiert und die Polizei alarmiert
.
So sehr sich jeder in diesem Raum gewünscht hatte, dass Frau Schulz verschwinden würde, so sehr verfluchen wir uns in diesem Augenblick für diesen Wunsch.
„Sorge dafür, dass wir alles das Schuljahr nicht wiederholen müssen, dann gehörst du zu uns.“ Hatten sie ihr gesagt.
Vermutlich hatte sie es geschafft. Tina verbrannte das Klassenbuch am letzten Freitag, danach musste sie die einzige Person beseitigen, welche die Zensuren wie auf einer Festplatte im Kopf gespeichert hatte. Diese Festplatte ist nun defekt und der Großteil davon klebt an der Tafel, ohne Chance auf Datenrettung.
Meine Lippen und Hände zittern. Tina schaut die Mädchenclique unserer Klasse an, nimmt sie ins Visier ihres tödlichen Rachewerkzeugs. Die Mädchen flehen darum ihren Kopf behalten zu dürfen.
Paula, die wohl größte Tussi an der gesamten Schule hatte Tina bei jeder Gelegenheit schlecht gemacht. Sie trägt jeden Tag ein neues Gewand und alles was älter als drei Tage ist langweilt sie.
„Secound Hand Schlampe“ Wurde Tina von Paula und ihren Freundinnen des Öfteren genannt oder auch „Fettes Mastschwein“ oder „Tochter einer Schnapsdrossel“.
Jetzt setzt Paula all ihre Redegewandheit ein um diese Situation zu überleben.
„Bitte, Tina. Wenn du das tust wirst du deines Lebens nicht mehr glücklich.“
Tina lächelt ernst und sagt darauf. „In meinem gesamten Leben habe ich mich noch nie so glücklich und frei gefühlt wie in diesem Moment. Was ist das für ein Gefühl, ganz unten zu sein?“
„Tina, bitte tu es nicht.“ Ich versuche verzweifelt auf sie einzureden, aber ich bekomme nicht viel heraus.
Sie dreht sich zu mir um. „Du hast mir nie etwas getan, du musst also keine Angst haben.“ Sie macht ein geradezu freundliches Gesicht. Allerdings ändert sich ihre Mimik sofort als sie sich wieder zu Paula und ihren Freundinnen umdreht.
„Hast du einen letzten Wunsch?“ Möchte sie von Paula wissen.
Diese winselt und weint. „Bitte. Bitte lass mich am Leben.“
„Falscher Wunsch. Ich wette, das ist der erste Moment in dem du es bereust mich ständig gehänselt zu haben. Bereust du es denn?“
„Jaaa, oh Gott ja ich bereue es.“ Das Mädchen ist am Ende und kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ihre Freundinnen versuchen unauffällig etwas Luft zwischen sich und Paula zu bringen, wahrscheinlich um nicht von einem eventuellen Schuss mit verletzt zu werden.
„Zu spät.“ Mit eiskalter Mine betätigt Tina den Abzug und ein lauter Knall unterbricht die beängstigende Stille. Rauch vermischt sich mit dem Schweißgeruch und dem Geruch des Todes, der in der Luft liegt.
Der Schuss trifft Paula am Oberarm. Tina wird von dem Rückstoß des Gewehres zurückgeschleudert, kann sich aber auf den Beinen halten.
Die Wucht des Schusses und die Körnung des Schrotes reißen Paula fast den gesamten Arm ab. Alles was die Schulter noch mit dem Unterarm verbindet sind ein Knochen und einige Haut- und Muskelfetzen.
Paula schreit vor Schmerzen auf, allerdings nur eine Sekunde. Dann schlägt sie mit dem Kopf auf dem Boden auf und verliert das Bewusstsein.
Die Mädchenclique springt in Panik wie aufgescheuchte Hühner beiseite. Sie schreien ständig Paulas Namen und den von Gott.
Tina lässt das völlig kalt. In ihrem Gesicht ist große Befriedigung und Freude zu sehen. Als hätte sie gerade einen Sexuellen Höhepunkt erlebt, der Vergleich scheint mir selbst in dieser Situation nicht absurd.
Sie geht wieder nach vorne und setzt sich an den Tisch von dem aus uns Frau Schulz noch vor einiger Zeit auf die bevorstehenden Prüfungen vorbereiten wollte.
Tina legt das Gewehr auf die Tischplatte und holt einen Zettel heraus. Sie schreibt einige Minuten lang. Obwohl die Situation jetzt günstig wäre, traut sich niemand zu rühren. Einige Schüler sind zusammen gebrochen, andere weinen wieder andere übergeben sich.
Die Fenster und die Tür sind fest verschlossen, so dass der Rauch des letzten Schusses nicht entweichen kann. Er reizt meine ohnehin schon roten Augen und diese schmerzen fürchterlich, aber ich bleibe ruhig und reibe sie mir nicht mal.
Durch meinen Kopf wandern wirre Gedanken. Ich versuche mir all meine Sünden in Erinnerung zu rufen.
Habe ich jemals andere Menschen in einem Maße verletzt, dass sie am Ende so verzweifelt werden könnten?
Ich verwerfe diese Gedanken so schnell ich kann.
Nichts rechtfertigt ein solches Handeln, oder doch? Ich bin mir nicht mehr sicher.
Frau Schulz hatte viele sadistische Züge an sich. Sozial schlecht gestellte Kinder hatten bei ihr nie etwas zu lachen. Bei Paula genauso, wenn jemand am Boden lag trat sie noch einmal zu.
Haben es solche Menschen verdient zu leben? Können sich solche Menschen ändern?
Früher hatte ich oft Streit mit anderen Kindern, hatte sie oft geärgert, geschubst und auch die eine oder andere Prügelei geht auf mein Konto.
Das ist alles harmlos im vergleich was sich Frau Schulz und Paula geleistet hatten.
Aber sie verdiene deswegen nicht den Tod.
Tina ist fertig mit schreiben, sie steckt die Kuppe sorgfältig auf den Füllfederhalter und legt ihn vorsichtig auf den Tisch, als möchte sie ihn nicht beschädigen.
Sie faltet den Zettel, nimmt ein Magnet und sucht sich eine saubere Stelle an der Tafel an der sie ihn befestigt.
Tina dreht sich wieder um. „Ihr könnt alle gehen.“
Die Schüler trauen ihren Ohren nicht und richten still schweigend den Blick nach vorne.
„Helft denjenigen die ohnmächtig sind und tragt sie hinaus wenn es sein muss.“ Dann schreit sie. „Macht schon.“
Meine Klassenameraden zucken zusammen, jeweils zwei von ihnen nehmen einen, der nicht fähig ist das Zimmer aus eigener Kraft zu verlassen. Langsam und in einer Reihe verlassen die Jugendlichen das Klassenzimmer.
Ich begebe mich als letzter und sehr langsam Richtung Tür und schaue in Tinas Gesicht.
Sie lächelt mich an. „Du hast dich immer korrekt zu mir verhalten. Du bist ein guter Mensch. Ich wünsch dir alles Gute.“
„Tina…“
Sie lässt mich nicht aussprechen. „Geh. Bitte geh.“
Ich verlasse das Klassenzimmer und steige die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Am Schuleingang erwarten mich bereits Männer des Sondereinsatzkommandos und nehmen mich in Empfang. Uns werden Fragen gestellt.
„Wie viele Geiseln sind noch da drin? In welchem Zimmer sind sie? Wie viele Täter befinden sich im Klassenzimmer? Die anderen und ich sind nur sehr beschränkt in der Lage auf die Fragen einzugehen. Viele sind in einem Schockzustand, andere in Panik. Die Fragen prasseln wie von weiter Ferne auf uns ein. Alles wirkt unwirklich, ich fühle mich wie zwischen Schlaf und Wachzustand.
Wieder muss einige Zeit vergangen sein. Die Sonne steht inzwischen im Zenit. Irgendjemand schreit durch ein Megafon.
Nachdem mich der Beamte aus dem Verhör entlassen hat gehe ich in Richtung der Fenster unseres Klassenzimmers. Die Vorhänge sind zugezogen. Mein Magen dreht sich und mich überkommt ein Gefühl tiefster Übelkeit.
Ein Schuss ertönt und ich weiß sofort wer da auf wen geschossen hat.
Die Polizei stürmt die Schule mit dem Wissen, dass es keine Geiseln mehr gibt. Sie finden nur Tinas Leiche.
Sie hatte sich das Gewehr in den Mund gehalten und sich selbst gerichtet. Ihr Vater ist unter dem Sturmkommando und muss das Szenario sehen, das seine Tochter an diesem Vormittag angerichtet hat.
Zwei Leichen, die man nicht mehr anhand ihres Kopfes identifizieren kann, eine davon die eigene Tochter. Er zittert und bricht schließlich auch zusammen. Seine Kollegen bringen ihn aus dem Zimmer. Sanitäter kümmern sich um die noch lebende, aber zum Krüppel gemachte Paula. Sie wird nie wieder jemanden hänseln, sondern in Zukunft selbst Opfer von Intoleranz und Dummheit werden.
Nachdem die Beamten den Tatort gesichert haben gehe ich ein letztes Mal in diese Schule, in unseren Klassenraum.
Ich nehme den Zettel von der Tafel und lese ihn.
Es ist der Tod, der wie ein Stern
unverhofft vom Himmel fällt
und irgendwo am Horizont
lautlos im Meer versinkt.
Und wenn er kommt, hab keine Angst,
jedes Ende ist ein Neuanfang.
Um zu sterben leben wir ein Leben lang,
alles ist eins und gehört zusammen.
Unsere Zeit ist immerzu
nur auf der Flucht vor uns,
irgendwann holen wir sie ein,
das wird unser Ende sein.
Und wenn es kommt, hab keine Angst,
es ist nur ein Neuanfang.
Was wäre ein Leben ohne Tod,
was wäre die Sonne ohne Mond?
Das Leben und der Tod sind ein Liebespaar,
was wäre der Tag ohne Nacht?
Alles ist eins und gehört zusammen,
es gibt immer wieder einen Neuanfang.
Ohne jegliche äußerliche emotionale Regung stecke ich den Zettel ein.
Ich verlasse die Schule und werde sie nie wieder betreten.
Keinen meiner Mitschüler werde ich je wieder sehen.
Achtung : FSK 18
Heute ist der 24. Mai 2004, es ist ein Montag. Die Sonne scheint und die Uhr zeigt 10:22 Uhr an. Wir haben gerade die dritte Schulstunde, Mathematik. Die gesamte Klasse bis auf Tina ist anwesend. Unsere Lehrerin quält uns in dieser unerträglichen Hitze mit Prüfungsvorbereitungen.
Ich schwitze, genauso wie der Rest meiner Mitschüler. Viele von ihnen stöhnen und fächern sich verzweifelt Luft zu.
Es klopft an der Tür des Klassenraumes und die Lehrerin öffnet die Tür. Als sie sieht, dass es sich um Tina handelt welche zu spät kommt setzt sie sofort zu einer Standpauke an.
Ein Knall ertönt, der das Gemecker von Frau Schulz jäh unterbricht.
Sie wird nach hinten geschleudert und sinkt in sich zusammen.
Die Schüler um mich herum brechen in Panik aus, sie schreien, weinen und verfallen in Schockzustände.
Tina betritt das Klassenzimmer und schreit. „Seid ruhig und setzt euch hin. Sofort!“
Alle machen was sie sagt.
Im Klassenzimmer um mich herum herrscht Stille. Dieser unheimliche, ruhige Zustand wird nur von dem ängstlichen Wimmern meiner Klassenkameraden durchbrochen. Minuten um Minuten verstreichen. Der Geruch von Schweiß, Urin und Blut liegt in der Luft. Einige Mitschüler scheinen in diesem Schreckmoment die Kontrolle über ihre Blase verloren zu haben.
Vorne neben dem Lehrertisch liegt Frau Schulz, dort wo früher ihr Hals und Kopf waren ragt nur noch ein Stück Wirbelsäule aus ihrem Rücken.
Die Tafel ist voll mit Blut, Gehirnteilen, Haut und einigen Knochensplittern. Nie wieder wird sie Tina heruntermachen weil sie ihre Mathematik Hausaufgaben nicht erledigt hatte, sie zu spät kam oder weil sie mal wieder in ihrem Sportunterricht die tausend Meter nicht schaffte.
Die Zeit verstreicht. Ich weiß nicht, ob es fünf Minuten oder mehrere Stunden sind.
Die Schrotflinte, mit welcher Tina uns und die gesamte Schule von der Schreckenslehrerin befreite, hatte sie gestern aus dem Waffenschrank ihres Vaters gestohlen. Er ist Polizist und steht draußen mit seinem Einsatzkommando, bereit die Schule zu stürmen. Irgendjemand hatte anscheinend schnell reagiert und die Polizei alarmiert
.
So sehr sich jeder in diesem Raum gewünscht hatte, dass Frau Schulz verschwinden würde, so sehr verfluchen wir uns in diesem Augenblick für diesen Wunsch.
„Sorge dafür, dass wir alles das Schuljahr nicht wiederholen müssen, dann gehörst du zu uns.“ Hatten sie ihr gesagt.
Vermutlich hatte sie es geschafft. Tina verbrannte das Klassenbuch am letzten Freitag, danach musste sie die einzige Person beseitigen, welche die Zensuren wie auf einer Festplatte im Kopf gespeichert hatte. Diese Festplatte ist nun defekt und der Großteil davon klebt an der Tafel, ohne Chance auf Datenrettung.
Meine Lippen und Hände zittern. Tina schaut die Mädchenclique unserer Klasse an, nimmt sie ins Visier ihres tödlichen Rachewerkzeugs. Die Mädchen flehen darum ihren Kopf behalten zu dürfen.
Paula, die wohl größte Tussi an der gesamten Schule hatte Tina bei jeder Gelegenheit schlecht gemacht. Sie trägt jeden Tag ein neues Gewand und alles was älter als drei Tage ist langweilt sie.
„Secound Hand Schlampe“ Wurde Tina von Paula und ihren Freundinnen des Öfteren genannt oder auch „Fettes Mastschwein“ oder „Tochter einer Schnapsdrossel“.
Jetzt setzt Paula all ihre Redegewandheit ein um diese Situation zu überleben.
„Bitte, Tina. Wenn du das tust wirst du deines Lebens nicht mehr glücklich.“
Tina lächelt ernst und sagt darauf. „In meinem gesamten Leben habe ich mich noch nie so glücklich und frei gefühlt wie in diesem Moment. Was ist das für ein Gefühl, ganz unten zu sein?“
„Tina, bitte tu es nicht.“ Ich versuche verzweifelt auf sie einzureden, aber ich bekomme nicht viel heraus.
Sie dreht sich zu mir um. „Du hast mir nie etwas getan, du musst also keine Angst haben.“ Sie macht ein geradezu freundliches Gesicht. Allerdings ändert sich ihre Mimik sofort als sie sich wieder zu Paula und ihren Freundinnen umdreht.
„Hast du einen letzten Wunsch?“ Möchte sie von Paula wissen.
Diese winselt und weint. „Bitte. Bitte lass mich am Leben.“
„Falscher Wunsch. Ich wette, das ist der erste Moment in dem du es bereust mich ständig gehänselt zu haben. Bereust du es denn?“
„Jaaa, oh Gott ja ich bereue es.“ Das Mädchen ist am Ende und kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ihre Freundinnen versuchen unauffällig etwas Luft zwischen sich und Paula zu bringen, wahrscheinlich um nicht von einem eventuellen Schuss mit verletzt zu werden.
„Zu spät.“ Mit eiskalter Mine betätigt Tina den Abzug und ein lauter Knall unterbricht die beängstigende Stille. Rauch vermischt sich mit dem Schweißgeruch und dem Geruch des Todes, der in der Luft liegt.
Der Schuss trifft Paula am Oberarm. Tina wird von dem Rückstoß des Gewehres zurückgeschleudert, kann sich aber auf den Beinen halten.
Die Wucht des Schusses und die Körnung des Schrotes reißen Paula fast den gesamten Arm ab. Alles was die Schulter noch mit dem Unterarm verbindet sind ein Knochen und einige Haut- und Muskelfetzen.
Paula schreit vor Schmerzen auf, allerdings nur eine Sekunde. Dann schlägt sie mit dem Kopf auf dem Boden auf und verliert das Bewusstsein.
Die Mädchenclique springt in Panik wie aufgescheuchte Hühner beiseite. Sie schreien ständig Paulas Namen und den von Gott.
Tina lässt das völlig kalt. In ihrem Gesicht ist große Befriedigung und Freude zu sehen. Als hätte sie gerade einen Sexuellen Höhepunkt erlebt, der Vergleich scheint mir selbst in dieser Situation nicht absurd.
Sie geht wieder nach vorne und setzt sich an den Tisch von dem aus uns Frau Schulz noch vor einiger Zeit auf die bevorstehenden Prüfungen vorbereiten wollte.
Tina legt das Gewehr auf die Tischplatte und holt einen Zettel heraus. Sie schreibt einige Minuten lang. Obwohl die Situation jetzt günstig wäre, traut sich niemand zu rühren. Einige Schüler sind zusammen gebrochen, andere weinen wieder andere übergeben sich.
Die Fenster und die Tür sind fest verschlossen, so dass der Rauch des letzten Schusses nicht entweichen kann. Er reizt meine ohnehin schon roten Augen und diese schmerzen fürchterlich, aber ich bleibe ruhig und reibe sie mir nicht mal.
Durch meinen Kopf wandern wirre Gedanken. Ich versuche mir all meine Sünden in Erinnerung zu rufen.
Habe ich jemals andere Menschen in einem Maße verletzt, dass sie am Ende so verzweifelt werden könnten?
Ich verwerfe diese Gedanken so schnell ich kann.
Nichts rechtfertigt ein solches Handeln, oder doch? Ich bin mir nicht mehr sicher.
Frau Schulz hatte viele sadistische Züge an sich. Sozial schlecht gestellte Kinder hatten bei ihr nie etwas zu lachen. Bei Paula genauso, wenn jemand am Boden lag trat sie noch einmal zu.
Haben es solche Menschen verdient zu leben? Können sich solche Menschen ändern?
Früher hatte ich oft Streit mit anderen Kindern, hatte sie oft geärgert, geschubst und auch die eine oder andere Prügelei geht auf mein Konto.
Das ist alles harmlos im vergleich was sich Frau Schulz und Paula geleistet hatten.
Aber sie verdiene deswegen nicht den Tod.
Tina ist fertig mit schreiben, sie steckt die Kuppe sorgfältig auf den Füllfederhalter und legt ihn vorsichtig auf den Tisch, als möchte sie ihn nicht beschädigen.
Sie faltet den Zettel, nimmt ein Magnet und sucht sich eine saubere Stelle an der Tafel an der sie ihn befestigt.
Tina dreht sich wieder um. „Ihr könnt alle gehen.“
Die Schüler trauen ihren Ohren nicht und richten still schweigend den Blick nach vorne.
„Helft denjenigen die ohnmächtig sind und tragt sie hinaus wenn es sein muss.“ Dann schreit sie. „Macht schon.“
Meine Klassenameraden zucken zusammen, jeweils zwei von ihnen nehmen einen, der nicht fähig ist das Zimmer aus eigener Kraft zu verlassen. Langsam und in einer Reihe verlassen die Jugendlichen das Klassenzimmer.
Ich begebe mich als letzter und sehr langsam Richtung Tür und schaue in Tinas Gesicht.
Sie lächelt mich an. „Du hast dich immer korrekt zu mir verhalten. Du bist ein guter Mensch. Ich wünsch dir alles Gute.“
„Tina…“
Sie lässt mich nicht aussprechen. „Geh. Bitte geh.“
Ich verlasse das Klassenzimmer und steige die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Am Schuleingang erwarten mich bereits Männer des Sondereinsatzkommandos und nehmen mich in Empfang. Uns werden Fragen gestellt.
„Wie viele Geiseln sind noch da drin? In welchem Zimmer sind sie? Wie viele Täter befinden sich im Klassenzimmer? Die anderen und ich sind nur sehr beschränkt in der Lage auf die Fragen einzugehen. Viele sind in einem Schockzustand, andere in Panik. Die Fragen prasseln wie von weiter Ferne auf uns ein. Alles wirkt unwirklich, ich fühle mich wie zwischen Schlaf und Wachzustand.
Wieder muss einige Zeit vergangen sein. Die Sonne steht inzwischen im Zenit. Irgendjemand schreit durch ein Megafon.
Nachdem mich der Beamte aus dem Verhör entlassen hat gehe ich in Richtung der Fenster unseres Klassenzimmers. Die Vorhänge sind zugezogen. Mein Magen dreht sich und mich überkommt ein Gefühl tiefster Übelkeit.
Ein Schuss ertönt und ich weiß sofort wer da auf wen geschossen hat.
Die Polizei stürmt die Schule mit dem Wissen, dass es keine Geiseln mehr gibt. Sie finden nur Tinas Leiche.
Sie hatte sich das Gewehr in den Mund gehalten und sich selbst gerichtet. Ihr Vater ist unter dem Sturmkommando und muss das Szenario sehen, das seine Tochter an diesem Vormittag angerichtet hat.
Zwei Leichen, die man nicht mehr anhand ihres Kopfes identifizieren kann, eine davon die eigene Tochter. Er zittert und bricht schließlich auch zusammen. Seine Kollegen bringen ihn aus dem Zimmer. Sanitäter kümmern sich um die noch lebende, aber zum Krüppel gemachte Paula. Sie wird nie wieder jemanden hänseln, sondern in Zukunft selbst Opfer von Intoleranz und Dummheit werden.
Nachdem die Beamten den Tatort gesichert haben gehe ich ein letztes Mal in diese Schule, in unseren Klassenraum.
Ich nehme den Zettel von der Tafel und lese ihn.
Es ist der Tod, der wie ein Stern
unverhofft vom Himmel fällt
und irgendwo am Horizont
lautlos im Meer versinkt.
Und wenn er kommt, hab keine Angst,
jedes Ende ist ein Neuanfang.
Um zu sterben leben wir ein Leben lang,
alles ist eins und gehört zusammen.
Unsere Zeit ist immerzu
nur auf der Flucht vor uns,
irgendwann holen wir sie ein,
das wird unser Ende sein.
Und wenn es kommt, hab keine Angst,
es ist nur ein Neuanfang.
Was wäre ein Leben ohne Tod,
was wäre die Sonne ohne Mond?
Das Leben und der Tod sind ein Liebespaar,
was wäre der Tag ohne Nacht?
Alles ist eins und gehört zusammen,
es gibt immer wieder einen Neuanfang.
Ohne jegliche äußerliche emotionale Regung stecke ich den Zettel ein.
Ich verlasse die Schule und werde sie nie wieder betreten.
Keinen meiner Mitschüler werde ich je wieder sehen.